Um es vorweg zu nehmen: «Mehr als 0 und 1» ist jeder Schulleitungsperson und jedem Mitglied einer Bildungsbehörde wärmstens empfohlen, wenn es darum geht, sich einen umfassenden Überblick zu verschaffen über die Auswirkungen der Digitalisierung und wie die Schule darauf reagieren soll. Mit seiner neusten Kreation präsentiert Beat Döbeli eine übersichtlich strukturierte Gesamtschau der Positionen und Argumente zur Integration von Medien und Informatik in die Schule. Gestresste ICT-Verantwortliche und Projektgruppen an Schulen erhalten damit willkommene Schützenhilfe. Doch der Reihe nach.
Beat Döbelis «Biblionetz» ist seit Jahren ein beliebter «Geheimtipp», um sich einen Überblick über Publikationen zu Medien, Informatik, (Medien)didaktik, Erkenntnistheorie etc. zu verschaffen. Nicht selten präsentiert Döbeli in seinen Referaten eine Auslegeordnung von Argumenten für und wider eine Position. Die vorliegende Publikation «Mehr als 0 und 1» greift das Konzept von befürwortenden und widersprechenden Argumenten auf, ergänzt durch anschauliche Grafiken und einprägsame Zusammenfassungen.
Leitmedienwechsel als Auslöser
«Mehr als 0 und 1» beginnt mit einer eben solchen Auslegeordnung zur Situation der Schule inmitten des Leitmedienwechsels von der Buchdruckgesellschaft zur Informationsgesellschaft; eine auf den Punkt gebrachte Analyse der Mediengesellschaft, respektive der Auswirkungen von Digitalisierung, Automatisierung, Vernetzung und Globalisierung auf unsere Gesellschaft. Die mitgelieferte Grafik (siehe Abb. 1.3) bietet eine visuelle Zusammenfassung. Genauso gut könnte diese wohl zum Einstieg in eine Diskussion verwendet werden. Die Leserin und der Leser stolpert schon bald über auffällig pinkfarbene Verweise. Diese führen geradewegs in Döbelis Biblionetz, wo man sich über Texte (z.B. t17725), Aussagen (a1260) Bücher, (b4152), oder Begriffe (w2232) vertiefen und bestens verlieren kann. Und weiter sind dies nicht nur Verweise auf frühere Publikationen, Döbeli ergänzt das Biblionetz fortlaufend und nimmt künftige Publikationen und Entwicklungen fortlaufend auf.
Keine Tradition der Informatik in der Schule
Da Informatik als Thema in der Schule über fast keine Tradition verfüge – so die Einleitung – widmet «Mehr als 0 und 1» diesem Thema ein vergleichsweise langes, 18-seitiges Kapitel. Zuerst gibt das vorangestellte Kapitel aber einen Überblick über die Funktionen von Medien im Unterricht, respektive welche «…Aspekte des Digitalen für die Allgemeinbildung relevant» seien: Es geht um Unterrichten mit, über und trotz Medien. Letzteres spricht den konstruktiven Umgang mit Störungen durch Mobilgeräte im Unterricht an. Verbote sind nicht dienlich, stattdessen soll die Lehrpersonen mit den Schüler/innen Nutzungsregeln aushandeln. Der konziliante Ton fällt auf, wenn Döbeli das Zusammenspiel von Anwendungskompetenzen, Informatik und Medienbildung beschreibt: «Medienbildung liefert sowohl für Anwendungskenntnisse als auch für Informatik die notwendige Reflexionsebene» (siehe Abb. 5.2). Der ausgewogene Blick auf alle drei Aspekte spricht an – er entspricht nicht zuletzt auch den Teillehrplan Medien und Informatik (D-EDK, 2014)– doch in dieser Klarheit liest man selten von der Sinnhaftigkeit dieser Trilogie. Wenn Döbeli in der Folge nun die Aspekte der Medienbildung auf einer Seite knapp aber durchaus vollständig umreisst, so sei ihm dies verziehen, denn als Informatiker hat er doch die Mission, den Bildungsinteressierten den Aspekt der Informatik näher zu bringen. Und über das Thema der Medien in der Bildung wurde in den letzten dreissig Jahren weiss Gott genug geschrieben.
Viele Argumente für Informatik als Teil der Allgemeinbildung
Es folgt ein Abriss der Themen der Informatik. Das geht für Nicht-Informatiker sehr schnell, klingt reichlich theoretisch und ist für Informatiker dagegen wohl Schnee von gestern. Gerne greift der Leser hier auf die praktischen Verweise in Beats Biblionetz zurück (das E-Book ist da klar im Vorteil): Was ist eine Turingmaschine? Was sagt das moooresche Gesetz aus? Manchmal wünschte man sich, unter den Verweisen mehr Informationen zu finden. Nicht jedes Stichwort ist ausreichend dokumentiert und erläuternde Beispiele könnten teils hilfreich sein. Die Begründung für Informatik als Teil der Allgemeinbildung fällt dann mit neun Argumenten umfangreich aus; gewohnt übersichtlich sortiert (Abb. 6.3). Es fällt auf, dass einige der Argumente ebenso gut auch auf die Medienbildung angewendet werden könnten, so z.B. das «Denkobjektargument», das «Arbeitstechnikargument» (Mediendidaktik) oder das «Mündigkeitsargument». Letzteres ist ein zentrales Thema der Medienbildung (siehe auch Studienbuch Medienpädagogik, Süess et al, 2013). Und umgekehrt wäre es wohl spannend, ein Lehrmittel der Medienbildung wie den Medienkompass auf Themen der Informatik zu durchforsten; man würde wohl einige Unterrichtsinhalte finden, welche durchaus auch in den Bereich der Informatik fallen würden. Die «Schnittmenge» Medienbildung/Informatik wäre zu ergründen. Wohltuend konkret wird es dann mit praktischen Hinweisen zur Vermittlung, dem «be-greifbar» Machen von Informatik. Willkommen im Reich der Tüftler und Bastler. Möge sich auch eine Werken-Lehrperson dieses Kapitel zu Gemüte führen. (siehe auch Computer Science Unplugged)
Integration des Digitalen die Schule: Die Lehrer sollen es richten
«Mehr als 0 und 1» will die zentralen Aspekte des Themas abdecken und geht auch der Frage nach, wie eine nachhaltige Integration des digitalen in die Schule gelingen kann nach, räumt aber ein, dass das Ansinnen «vielschichtig und komplex» sei, welches «… zahlreiche und miteinander koordinierte Massnahmen auf der Ebene des Individuums, der Schule, der Infrastruktur, des technischen und pädagogischen Supports sowie des gesamten Bildungssystems» erfordere. (S. 105) Döbeli zieht in der Folge das Will-Skill-Tool-Modell bei und teilt die Lehrpersonen den Innovationstypen (siehe Abb. 7.1) zu. Denn zentral bleibe die Lehrkraft, ihr Wille zur Integration und nach einem erfolgreichen Pilotprojekt mit einer kleinen Gruppe von Innovatoren und Early Adopters müsse die grosse Hürde zur Überzeugung der Early Majority genommen werden. Und «Skills», präsentiert Döbeli in Form eines umfassenden Weiterbildungskonzepts (S. 113).
Die Ebene der Lehrperson ist demnach gut abgedeckt. Diese ist zentral, einverstanden. Zu kurz kommt die Ebene der Schule als Organisation. Heutige Schulen sind geleitet, Schulteams erarbeiten Schulprogramme und Schulprofile: Die Lehrerinnen und Lehrer organisieren beispielsweise gemeinsam eine Projektwoche mit einem schulhausweiten Makerspace und prägen so bewusst ihre Schulhauskultur. Oder das Schulteam, die Schulleitung und die Schulbehörde einigen sich auf die Einführung eines Schulmodells mit Lernateliers und hohem selbstorganisiertem Lernanteil, kombiniert mit 1:1-Geräteausstattung. – Für eine nachhaltige Veränderung sind – wie Döbeli selbst eingangs kurz erwähnt – umfassende Massnahmen auf der Ebene der Schule notwendig; die vorausschauende Führung von Schulleitung und Behörde, die Einigung auf eine gemeinsame Entwicklungslinie, das Commitment der Lehrpersonen, diese zu verfolgen und eine Schulleitung, welche dies nach Bedarf auch einfordert. Auch der eingangs kurz erwähnte pädagogische Support für die Lehrpersonen darf nicht unterschätzt werden, denn Weiterbildung ist oft ein Tropfen auf einen heissen Stein und nicht selten bleibt es bei einem «Das müsste ich auch mal ausprobieren». Insofern müsste der Stand der pädagogischen ICT-Supporter dringend aufgewertet werden.
Dass die verschiedenen Ebenen der Planung zuweilen aber ein eigentliches Minenfeld sind zwischen Koordinationswunsch von oben und Autonomiewunsch von unten, bringt Döbeli am Schluss des Kapitels aber treffend auf den Punkt.
Das ideale Geburtstagsgeschenk für die Schulleitung oder so
«Mehr als 0 und 1» ist beides: Schnellstrasse, um zügig eine glasklare Analyse zu Digitalisierung und Schule und griffige Kernaussagen anhand übersichtlicher Zusammenfassungen und Grafiken zu erhalten, und Landkarte, um sich mit Hilfe des Biblionetz auf verzweigten Wegen mit weiteren Publikationen zu vertiefen. Lehrende verwenden zudem die anschaulichen Grafiken im Unterricht als Diskussiongrundlage mit den Studierenden (Welche Botschaft erkennen Sie in dieser Infografik? …). Auf die Frage angesprochen, ob die Publikation als E-Book oder als gedrucktes Buch zu kaufen, gibt Döbeli eine diplomatische Antwort: Es kommt drauf an; zur besseren Durchsuchbarkeit digital und für den Kaffeetisch im Teamzimmer als Buch. Dem sei hier widersprochen: Eigentlich kommt nur die E-Book-Version in Frage, sonst beraubt man sich der oben genannten Option zum Einsatz als Recherchemedium. Oder ergeht es dem Einen oder Anderen wie mir; nach früher Vorreservation – damals nur als gedrucktes Buch möglich – musste dann noch zusätzlich die digitale Version her. «Mehr als 0 und 1» wäre demnach das ideale Geburtstagsgeschenk für die zögerliche Schulleitung, zur Not gleich vorinstalliert auf einem günstigen Tablet.
«Mehr als 0 und 1» im HEP-Verlag
Rezension von Pilippe Wampfler
Interview auf educa
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