Die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaften (DGfE), Sektion Medienpädagogik, lädt zu einer Tagung an die Pädagogische Hochschule Zürich ein. Es geht um «Medienbildung im Spannungsfeld medienpädagogischer Leitbegriffe», will heissen, mit welchen Begriffen die Pädagogen künftig hantieren sollen: Medienbildung? Medienkompetenz? Media Literacy? Medienerziehung? Mediendidaktik? – Die «Weiterentwicklung der theoretischen Begründung der Medienpädagogik» sei Thema der Tagung, erklärt Horst Niesyto zur Einführung. Diese sei durch die neuen Medientechnologien, die veränderte Medienlandschaft und die veränderte Mediennutzung (Web 2.0, soziale Netzwerke uam.) notwendig geworden. Eine Frage, die sich bei diesem Thema bald einmal stellt: Was hat die Schülerin und der Schüler davon? Die Theorie nährt die Praxis, die Praxis die Theorie. Wir sind gespannt, ob dies gelingen mag.Geschliffen kamen die Voten der Referentinnen und Referenten daher. Aber doch eher schwer verdauliche Kost, gegründet in der Basisliteratur von Erziehungswissenschaft, Bildungstheorie und Medienpädagogik. Heinz Moser fragt in seiner Einleitung, ob die Begriffe denn «zum Edelstein geschliffen» werden müssten, um sie dann im Regal auszustellen – fern von der Praxis im Schulalltag. Und doch: So manch Hinweis auf die praktische Medienarbeit im Schulfeld haben die Referate enthalten.

Mehr oder weniger losgetreten hat die Diskussion Bernd Schorb, als er 2009 in der Fachzeitschrift «medien + erziehung – merz» einen Artikel zum Thema «Gebildet und kompetent.» veröffentlichte. Er dürfe das tun, sei er doch Herausgeber der Zeitung. Darauf meldeten sich dann Heft für Heft Medienpädagogen mit einem Artikel zu Wort, meist mit Gegendarstellungen. Spätestens nach dem dritten Beitrag hätten die Praktiker im Redaktionsteam ungeduldig nachgefragt, was diese (theoretische) Diskussion denn für die Umsetzung der Medienarbeit(?) Medienbildung(?) in der Schule bringe. Dazu Schorb: «Es schadet euch überhaupt nicht, euch mit Theorien auseinander zu setzen». Und: «Wir führen die Diskussion für die Praxis.»

Während den zwei Tagen folgt Referat auf Referat, wenig Zeit für Verschnaufpausen. Und in den Diskussionen melden sich dann vor allem die Koryphäen der Medienpädagogik, will heissen die Redner diskutieren unter sich. Stimmen aus der Praxis hört man praktisch keine. Die Positionspapiere waren vorher downloadbar, die Meinungen schienen vorher auch schon gemacht zu sein. Denkanstösse gaben die Referate trotzdem, nachfolgend eine wenig strukturierte Auswahl:

Benjamin Jörissen präsentiert «drei Perspektiven auf Medienbildung» (PDF) und gibt zu bedenken, dass Begriffe meist auf Alltagsbegriffen basieren. Er wünscht sich eine «Komplexitätsreduktion» und weist darauf hin, dass der Begriff «Medienbildung» im öffentlichen und politischen Diskurs viel Aufmerksamkeit erhalten hat (z.B. www.keine-bildung-ohne-medien.de). Die «Konjunktur des Begriffs Medienbildung» hat zutun mit der Medialisierung der Mediengesellschaft. Trotzig schliesst Jörissen seine Ausführung: «Mir ist es egal, ob die das Medienbildung oder Medienkompetenz nennen, solange die das fördern!»

Isabel Zorn spricht über «Medienkompetenz und Medienbildung in Gegenwart Digitaler Medien» (PDF). Sie irritiert mit der Gleichung «Medien ≠ Digitale Medien». Wir haben es bei Digitalen Medien mit programmierten Rechenmaschinen zutun, so Zorn. Man hätte lange argumentiert, das Neue an den «neuen Medien» seien die Multimedialität und die Interaktivität (S. 18). Das stimmt nicht. Das Neue ist die Programmierung (die Automatisierung) von Medien und demonstriert mit dem Beispiel Amazon: «Andere Leser haben noch diese Bücher gewählt…» Da haben Amazon durch diese Programmierung etwas neues «gestaltet», diese neuen Medieninhalte sind von Software erstellt worden, nicht von Menschen. Und von computerbasierten Medien generierte Medieninhalte können nicht von der technischen Seite der Medien getrennt betrachtet werden.
Zorns Forderung: «Digitale Medienkompetenz» ist notwendig, um solche Phänomene einordnen zu können. «Digitale Medienbildung» soll aus der Analyse der digitalen Medien erfolgen (S. 20). Es muss Orientierungswissen erworben werden, Technologie muss entmystifiziert werden. Daraus kann sich ein neues Verständnis von Allgemeinbildung ergeben. In ihrem Papier entwickelt Zorn ansatzweise einige Praxiskonzepte, z.B. Hackingstrategien selbst austesten (S. 22), Programmierung von Robots (S. 23) etc. Und Zorn schliesst mit dem griffigen Fazit: «Keine Bildung ohne Technologieperspektive».

Am Freitag stand vor allem die Mediendidaktik im Zentrum, mit Kurzreferaten von Gerhard Tulodziecki, Dominik Petko und Michael Kerres.
Michael Kerres plädiert für eine «(Neu-)Positionierung der Mediendidaktik (PDF). Die traditionelle Trennung zwischen Medienerziehung und Mediendidaktik sei nicht mehr haltbar, sie sei durch das Internet obsolet geworden. Er schlägt eine andere Betrachtung aus einer handlungsorientierten und einer gestaltungsorientierten Perspektive vor: «Die handlungsorientierte Perspektive möchte das handelnde Individuum zu einem kompetenten Umgang mit Medien befähigen. Die gestaltungsorientierte Perspektive betrachtet in Ergänzung dazu die lern- und entwicklungsförderliche Umwelt.» (S. 1). Medien müssten als «zu gestaltende Umwelt» interpretiert werden, denn: «Immer mehr ist menschliches Handeln mit medialer Technik vernetzt. Somit stellt sich die Frage, wie diese Umwelten gestaltet werden können, um ihre Potenziale für Erziehung und Bildung zu schliessen.»

Bleibt die Frage, wie diese Diskussion für die Arbeit in der Schulpraxis genutzt werden kann. Dies vorneweg: Direkte 1:1-Bezüge Theorie–Praxis waren nie zu erwarten. Und doch konnte ansatzweise diskutiert werden, wie die veränderte Medienlandschaft, die veränderten Medientechnologien und der veränderte Medienumgang der Kinder und Jugendlichen die Medienarbeit in der Schule verändern. Es wurden vor allem Begriffe diskutiert, doch dahinter hörte man bei vielen Rednern die grundsätzliche Frage heraus: Wohin soll die Reise gehen ‚Welches sind unsere pädagogische Anliegen? – Wir benötigen einen (theoretischen) Bezugsrahmen, um neue, in der Praxis auftauchende Technologien und neue Medienphänomene beurteilen und einordnen zu können. Und diese Beurteilung sollte im Idealfall durch «Theoretiker» und «Praktiker» gemeinsam erfolgen. Wehe, wenn die Theorie oder die Praxis alleine entscheidet…

Bemerkenswert auch der Grundtenor, dass Medienbildung und Mediendidaktik näher zusammenrücken sollten. Mit Blick auf die Schulpraxis kommt da allerdings ein ungutes Gefühl auf: Wir beobachten in den Schulen, wie es Lehrpersonen schwer fällt, zwischen Lernen mit Medien und Lernen über Medien zu unterscheiden. Die Aufgabe wird für sie nicht leichter…
Auch ein Blick auf Zorns Forderung nach «Digitaler Medienbildung» aus Praxissicht verheisst wenig Gutes: Heute, nach über zehn Jahren Weiterbildungsarbeit zur Medienintegration in die Schule, beobachten wir, dass Lehrpersonen den Computer im Unterricht mehrheitlich zur Textverarbeitung, in Verbindung mit Lernsoftware (Mathematik, Sprache…) und zur Recherche nutzen. Dies sind Nutzungsfelder, welche wir bereits vor 10 Jahren in der Lehrerweiterbildung gelehrt haben. Sie sind jetzt (mehrheitlich) im Unterricht angekommen. Auch medienbildnerische Inhalte scheinen sich in der Schweiz beispielsweise mit dem Lehrmittel «Medienkompass» langsam, eher zögerlich im Schulunterricht zu etablieren. Doch die Arbeit mit Web 2.0-Technologien im Unterricht, auch gestaltendes Arbeiten mit audiovisuellen Medien – so beobachte ich – ist an vielen Schulen noch eher die Ausnahme – abgesehen von oft gut dokumentierten isolierten Schulprojekten. Demzufolge werden wir wohl weitere zehn Jahre darauf warten müssen, bis sich die Schule vom Nutzungsschema «Textverarbeitung–Lernsoftware–Internetrecherche» weiterentwickelt. Doch etwas anderes behauptet auch Beat Döbeli  in seinem Artikel «Lernplattformen entwickeln sich rasend langsam» nicht. Vgl. «Lernplattformen in Schulen» (2010. Petko, Dominik Hrs.)

Nachtrag
Wie zu erwarten, geht die Diskussion um die angerissene Thematik online weiter: Bereichernde Blogbeiträge von Mandy Schiefner (Tag 1 hier), Kerstin Mayrberger, Michael Kerres und ein erfrischend selbstkritischer Beitrag von Beat Döbeli. Jede/r hat andere Schwerpunkte für sich persönlich mitgenommen. So soll es sein. Wir bleiben dran.

Bilder: Jürg Fraefel. Bildgalerie der Tagung.