Letzte Woche besuchte ich einen Vortrag von Prof. Dr. Gerald Hüther, Leiter der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen. Thema: Die Macht der virtuellen Bilder – Medienkonsum und Hirnentwicklung. Gerald Hüther ist für seine kritische Haltung gegenüber Medien bekannt, der Titel versprach jedoch einige Informationen zur Hirnentwicklung – ich war gespannt darauf.

Gleich zu Beginn kommt Hüther zum Kern seines Anliegens: Die Einflüsse auf die digitalen Medien auf die Kinder und Jugendlichen würden ihm Sorgen bereiten. Der Mensch habe ein feines Sensorium für die Möglichkeiten von virtuellen Medien, jedoch mache er sich wenig Gedanken darüber, was dabei verloren gehe.

Darauf die Präsentation eines Experiments: Männliche Probanten fahren mit einer Computersimulation auf dem Nürnburger Ring, dabei wird ihre Hirntätigkeit gemessen. Anschliessend geniessen sie eine virtuelle Fahrt auf derselben Strecke, diesmal jedoch als Beifahrer; am Steuer sitzt Michael Schumacher.
Resultat: praktisch keine Hirnaktivität, wenn die Probanten «aktiv» virtuell Autofahren, jedoch starke Hirntätigkeit als virtueller Beifahrer von Michael Schuhmacher. Computerspielen werden nach Hüther demnach immer «passiv» konsumiert.
Hüther liefert umgehend die Interpretation auf Kinder bezogen, wenn sie am Bildschirm spielen: Ihr Hirn würde beim Gamen ebenso auf «sehr enge Weise genutzt» – Polemischer Beisatz: Es könnte ja auch gut sein, wenn künftige Erwachsene ihr Hirn in «enger Weise» nutzen. Beifälliges Lachen im Saal.

In der nachfolgenden Dreiviertelstunde erfahren wir vor allem weitere Polemik über Bildschirmmedien, auf die wissenschaftliche Unterfütterung mit neurophysiologischen Forschungsergebnissen verzichtet Hüther beinahe vollständig:
Im Amazonasgebirge könnten Menschen ca. 120 verschiedene Grünarten unterscheiden; die heutigen Computer- und Fernsehkits müssten nur drei verschiedene Grünarten des Bildschirms unterscheiden können: hell-, mittel- und dunkelgrün.
Die Gehirntätigkeit sei im Verlauf des 1. Lebensjahrs am aktivsten, dann verkümmere das Hirn fortlaufend dramatisch. In der Schule könnte im besten Fall dieser Zerfall aufgehalten werden. Schuld daran sei der exzessive Medienkonsum.

Hüther: «Wenn wir verstehen wollen, weshalb Kinder nach den Medien brauchen, dann ist dies aus einem Gefühl des Mangels. Wir müssen ihnen das Mangelgefühl durch Zuneigung und Wertschätzung geben. Medienkonsum ist eine Ersatzhandlung nach ungestillten Sehnsüchten.» Computerspiele würden den Kindern das Gefühl geben, dass sie etwas können, dass sie über sich hinaus wachsen, wenn sie etwas immer besser können. Kinder, die im realen Leben diese Bedürfnisbefriedigung hätten , würden «niemals nach dem Ersatzmittel Medien greifen» (O’ton). Kinder müssten Erfahrungen unabhängig vom Fernseher machen
Man müsse sie dort abholen, wo ihre Bedürfnisse seien: Sie würden Zuneigung, Dankbarkeit, Wertschätzung benötigen.

Es ist nichts dagegen einzuwenden, dass Kinder in erster Linie Primärerfahrungen in ihrem Leben machen müssten und dass die von ihm genannten menschlichen Grundbedürfnisse fundamental sind. Dass Hüther jedoch den Medien einseitig den Schwarzen Peter zuschiebt ist ein schamlos zelebrierter Medienkonservativismus. Jedes Medium, sei es das Buch, die Zeitung, die Musik oder der Film kann doch in konstruktiver oder destruktiver Weise genutzt werden. Gabi Reinmann hat dazu letzthin einen treffenden Artikel mit dem Titel: «Machen Computer dumm?» verfasst (siehe auch Blogeintrag von Thomas Stierli).

Hüther kritisiert, dass das Erfahren der Selbstwirksamkeit sehr wichtig sei, dies könne das Kind nur in realen Situationen erfahren. Ersterem ist zuzustimmen, jedoch ist es nicht so, dass der Mensch wie Hüther ausführt Medien ausschliesslich «passiv» konsumiert. Die Aneignung von medialen Inhalten ist oft auch ein durchaus aktiver Prozess, ganz zu schweigen von interaktiven und kommunikationsorientierten Web 2.0-Medien.

Das Kongresshaus Zürich ist bei diesem Vortrag von Hüther mit ca. 300 Personen gut gefüllt. Auffallend ist jedoch der hohe Anteil von älteren Zuhörenden, handelt es sich doch um eine Werbeveranstaltung der Hochschule für angewandte Psychologie (HAP). – Eigentlich nicht das Zielpublikum für ein Psychologiestudium… Und dieses Publikum scheint Hüther mit seiner These zu begeistern, spricht er dieses in für einen Fachvortrag ungewohnter Weise an: «Ich ahne, dass es viele unter Ihnen in diesem Saal gibt, die da herausgefallen sind.» lobt er sein Publikum. Die Anwesenden würden sich aktiv gegen die «Ersatzbefriedigung Fernsehen und Computer» wehren. In welche Art Veranstaltung bin ich da geraten? – Wen oder was hütet Hüther? …