Der Lehrmittelverlag des Kantons Zürich widmet die Herbstausgabe seines Kundenmagazins «einblick» dem Themenschwerpunkt «Digitale Lernmedien». Der lesenswerte Leitartikel von Urs Ingold gibt einen anschaulichen Überblick über die Geschichte der elektronischen Lernmedien in der Schule und regt zum Nachdenken über die heutige Entwicklung von Lern-Apps und andere Online-Lehrmittel an. Wohlbegründet wird der Kontrast zwischen dem trägen System Schule und der dynamischen Entwicklung der Medienlandschaft beschrieben. Dies mache eine wohl dosierte Entwicklung von digitalen Lehrmitteln notwendig, ein «Medienmix» aus Schulbuch, Website und Software sei anzustreben. Soweit nachvollziehbar. Doch wäre auch unter Berücksichtigung dieser erschwerenden Umstände nicht doch etwas mehr Innovationsgeist möglich?

Einen vielversprechenden Anfang hat der Lehrmittelverlag des Kantons Zürich bereits mit dem iPad-App «Multidingsda» gemacht. Es ist dem Verlag zu wünschen, dass sich der unternehmerische Mut ausbezahlt, denn die Schule hat solch digitale Lernmedien in Anbetracht der kaum übersehbaren Flut von «Pilotprojekten» mit Mobilgeräten dringend nötig. Und es stimmt nachdenklich zu beobachten, wie die Initianten solcher Projekte in der Not auf Apps zurückgreifen, welche teils weit weg von den Inhalten offizieller Lehrmittel sind: Da wird Mangels geeigneter Lernsoftware, respektive Apps auf teils zweifelhafte Angebote zurückgegriffen. Man fühlt sich in die Pionierzeiten des Computereinsatzes im Unterricht Anfang der 90er-Jahre zurückversetzt, wo alles erlaubt war, was auf dem vorhandenen Betriebssystem lief. Siehe Blogbeitrag vom 29.6.11. Zweifelsohne ermöglichen bestehende Apps einen explorierenden Unterricht. Sie eignen sich zum dynamischen Dokumentieren und Organisieren, zum Recherchieren und Kommunizieren und regen zu innovativen Unterrichtsszenarien an. Denken wir an die Doku-App Schweizr, ans mächtige Content Management Tool Evernote (Bericht) oder an die App Mindmeister, um nur einige zu nennen. Und diverse Blogs (z.B. Apps in Eduction) und Facebookgruppen (z.B. die iPad@School) graben immer wieder schultaugliche Apps aus.

Doch nebst diesen «Werkzeug-Apps» ist auch mobiltaugliche Lernsoftware wünschenswert, und zwar solche, die auf die offiziellen Lehrmittel abgestimmt ist. Da wären Apps mit anregenden Interaktionen zum Vertiefen von Lerninhalten von offiziellen Mathe- oder Sprach-Lehrmitteln sehr willkommen. Die Entwicklung ist teuer und risikobehaftet, doch es scheint, dass sich einige Lehrmittelverlage dazu Gedanken machen. Einfacher haben es da natürlich Verlage, welche Apps zu «bildungsnahen» Themen in Anlehnung an ihre Printprodukte entwickeln können. Dies entwickle sich als gutes Geschäft, wie man aus dem Artikel in der NZZ am Sonntag vom 16. Oktober «Navigieren durch die digitale Märchenwelt» erfährt (leider nicht online). Man munkelt, dass ein staatlicher Lehrmittelverlag im Norden der Schweiz drauf und dran sei, in Anlehnung an ihr offizielles Mathematik-Lehrmittel Apps für Tablets anbieten wolle…
Aber auch ohne Apps mit teuren Interaktionen liesse sich bereits mit einem «aufgemotzten» PDF des Schulbuchs einiges anstellen, einem «E-Schoolbook». Nicht sehr innovativ scheint dies, aber nicht weniger praktisch: Man stelle sich eine Sekundarschülerin vor, welche anstatt ihres Rucksacks mit 8 Kilogramm Schulbüchern ein iPad mit allen Lehrmitteln in digitaler Form besitzen würde. Sie könnte im digitalen Lehrmittel Buchzeiten, Notizen und Links zu Interaktionen im Internet platzieren. Oder die Lehrperson hätte die Möglichkeit, bei schriftlichen Arbeitsaufträgen, beispielsweise in Planarbeit, mit einem Link direkt auf die entsprechenden Buchseiten zu verweisen. Die buchähnliche Haptik von mit den Fingern bedienbaren Tablets ist grundlegend verschieden von der Arbeit am Desktop-Bildschirm. Ein handliches iPad oder ein Android-Tablet regt dazu an, in der Gruppe herumgereicht und auch unterwegs genutzt zu werden. Dies ist im Alltag nicht zu unterschätzen. So haben die ersten Ausgaben von Wired, dem Wall Street Journal und National Geographic gezeigt: Die Leser der iPad-Ausgabe verbringen fünf mal mehr Zeit damit als im Vergleich mit ihren Websites, die denselben Inhalt haben. Wie schön wär’s, wenn die Schülerinnen und Schüler dank Schulbuch auf dem Tablet fünf mal mehr Zeit damit verbringen würden… (-;

Das Billing wäre nicht geklärt, hört man zuweilen von den (Schul)verlagen, ebenso wenig der Schutz vor Raubkopien. Dabei könnte es Parallelen geben zwischen der Entwicklung Musikindustrie in den letzten Jahren und der Lehrmittel-Entwicklung: Erfolglos hat die Musikindustrie gegen die Internet-Piraterie gekämpft. Der Online-Distribution hat sie sich nur widerwillig gebeugt. Wegweisend war wohl die Distribution über Apples iTunes-Store. Die Musik, skeptisch ob dies funktionieren würde, verkaufte die Musik die ersten Jahre nur mit dem problembehafteten DRM-Schutz. Das Geschäftsmodell geht heute offenbar auf und seit kurzem wird digitale Musik DRM-frei verkauft.
Was die Musikindustrie inzwischen kann, sollte doch auch ein Lehrmittelverlag können, falls die versprochenen Billing-Systeme praktikabel sind. Und so unterschiedlich sind die im Artikel als «dauerhaft» beschriebenen Lehrmittel und das PDF auch nicht: Das Format gibt es seit bald 20 Jahren. Und noch heute lassen sich PDFs der ersten Stunde mit x-beliebigen PDF-Readern öffnen. Und so weit weg scheint die Variante eines «E-Schoolbook» nicht zu sein, bekanntlich werden seit geraumer Zeit E-Books gut verkauft und ein weiterer Ausbau dieses Marktsegment ist angekündigt, siehe Artikel im Tages-Anzeiger vom 15. Oktober «Lesen und klagen in Frankfurt»

Etwas mehr Mut wünschte ich mir von «unserem» Lehrmittelverlag bereits heute: So ist das kostenlos erhältliche Kundenmagazin Nummer 9 September 2011 tatsächlich nicht Online erhältlich. Auch hier wäre ein Mehrwert mit einer digitalen Ausgabe gegeben – ohne finanzielles Risiko. So gibt es einstweilen keine andere Möglichkeit, als die Printausgabe (unerlaubterweise) einzuscannen und hier zum Download anzubieten, zumindest, bis in absehbarer Zeit das Kundenmagazin auf auf deren Website  online verfügbar sein wird.

Nachtrag 2.11.11:
Das Kundenmagazin steht nun auf der Website des LMVZ bereit

Nachtrag 6.12.11:
Die Beratungsstelle fri-tic teilt ihre Überlegungen/Empfehlungen zur Zukunft digitaler Lehrmittel mit.

Nachtrag 20.12.11:
Oliver Ott (PH Bern) publiziert ein Factsheet zum Thema «Lehrmittel bald nur noch digital? – Flexbooks setzen sich durch). PDF

Nachtrag 19.1.12:
Apple bietet mit iBooks Author eine kostenlose Software zum Erstellen von Multi-Touch-Publikationen für das iPad an. Damit kommt weitere Bewegung in die Diskussion um elektronische Schulbücher. Siehe auch die kritische Analyse im Blog von Andreas Von Gunten.